Alexander Rost: Abseits vom Paradeplatz. Die deutsche Armee von 1914 war vielleicht die Beste der Welt. Aber nicht gut genug.

Was eine Rezension, vor über 34 Jahren gedruckt, uns heute – gerade zu 1914 – und der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges – sagen kann, zeigt sich im Internet mit dieser Rezension von Alexander Rost. Es war heute ein völlig neuer Blick auf das Buch von 1977, der mir so nicht erinnerlich war.
Bernd F. Schulte

DIE ZEIT Aktualisiert 16. November 1979 07:00 Uhr Ausgabe 47/1979 Heeresgeschichte

 

  • Fünf Jahre vor der Schlacht bei Tannenberg war Hindenburg schon einmal Sieger, im Frieden und im eigenen Land. Als Kommandierender General des IV. Armeekorps (Magdeburg) ließ er 1909 durch seine „aufmarschierenden Truppen“, wie er berichtete, „sozialistische Unruhen im Mansfeldischen Raum“, einen Bergarbeiterstreik, „ersticken“. Es gab kein Blutvergießen. Bezeichnend aber war das methodische Vorgehen.

Es war kein Zufall. 1910 deckte der Vorwärts auf, daß beim VII. Armeekorps (Münster), zu dessen Bereich das westfälische Industriegebiet gehörte, „genaue Instruktionen für das Verhalten der Truppe bei Straßenkämpfen und bei Niederwerfung von Aufständen“ ausgearbeitet waren. Diese Enthüllung durch das sozialdemokratische Blatt machte auf die Militärs übrigens keinen Eindruck. Der Bayerische Militärbevollmächtigte in Berlin entgegnete:

„Es kann doch wohl nicht bestritten werden, daß es ein schweres Versäumnis wäre, wenn in Städten, in denen der Aufruhr, von dem man ja nie weiß, wie weit er führen wird, jeden Tag ausbrechen kann, das Wie und Wo des militärischen Eingreifens nicht ganz genau vorbereitet, sondern am Ende gar der Eingebung des Augenblicks überlassen wäre.“

Schon 1877 hatte der Graf Waldersee, der das Generalkommando im preußischen Altona erhielt, in nächster Nachbarschaft des „roten“ Hamburg, so holperig wie geradeaus geschrieben: Es komme „unbedingt zum Kampf der Besitzlosen gegen die Besitzenden und kann da nur eine Berufsarmee den totalen Zusammenbruch aller gesellschaftlichen Zustände verhindern“. 1909 erteilte der Generalstab eine „Anweisung für den Bürgerkrieg“, in der unter anderem die nächtliche Verhaftung sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter geplant war. Und wenn auch die Söldnerarmee, „klein und gut bezahlt“, wie Waldersee sie gewünscht hatte, nicht kam und in der rage du nombre jener Ära nie kommen konnte, so war doch das Wehrpflichtheer schließlich in einem starken, der Öffentlichkeit nur vage bewußten Maße ein innenpolitisches Herrschaftsinstrument.

Für seine eigentliche Aufgabe, ultima ratio der Außenpolitik zu sein, war das außerordentlich schädlich. Die Schwächen in Taktik, Ausbildung und Bewaffnung des deutschen Heeres vor dem Ersten Weltkrieg waren Ausfluß der Schwächen des wilhelminischen Systems überhaupt. Konservativ bis in die Knochen, blieben die meisten seiner Führer unfähig zu der Evolution, die nicht der revolutionären Regungen im Volke, sondern der technischen Revolution wegen möglich und nötig wurde.

Dieser Sachverhalt, folgenschwer für die gesamte Geschichte, aufschlußreich über die Grenzen des Militärhistorischen hinaus, ist bislang nirgends umfassender untersucht, mit mehr (und vielen neuen) Fakten belegt und gründlicher analysiert worden als in

Bernd-Felix Schulte: „Die deutsche Armee 1914–1918“, Droste Verlag, Düsseldorf 1977, 591 S., 68,– DM.

Im ersten Teil wird über die militärfachliche Kritik des westlichen Auslands an der deutschen Armee berichtet. Ihr Wortführer war der Militärkorrespondent der Times, der Oberst außer Diensten Repingtön (Jahrgang 1858, Eton, Sandhurst, Kolonialkriegserfahrungen, Nachrichtendienst im Kriegsministerium). Vor allem sein in einer Serie erschienener Bericht über das Kaisermanöver 1911 dürfte erheblich dazu beigetragen haben, im Ausland die Furcht vor der deutschen Armee abzubauen. Er zweifelte die „Kriegsmäßigkeit“ des Manövers nicht an. Die Attacken von Kürassieren in schimmernden Brustpanzern waren zu jener Zeit allenfalls noch Anlaß zu Flurschaden-Witzeleien: „Und wenn et Artischocken sind – rinn in de Kartoffeln!“ Aber Repingtön traf offenbar den Nerv der deutschen Generalität, als er ihr „Mangel an Persönlichkeit und Initiative“ vorwarf. Kaiser Wilhelm II. versuchte, den Kritiker in England kaltstellen zu lassen; aber die britischen Diplomaten spielten nicht mit.

„Die Heere brauchen viel Zeit, eine neue Idee aufzunehmen“, hatte schon Lord Wolseley memoriert; doch weniger Mangel an Zeit als das starre Festhalten an alten Formen behinderte und verhinderte oft die naheliegende Auswertung zeitgenössischer Kriege. Darüber, über die verpaßte Ausnutzung der Erkenntnisse im Russisch-Japanischen Krieg zum Beispiel, wird im zweiten Teil des Buches referiert. Im dritten Teil geht es um die Entwicklung der deutschen Armee „unter besonderer“ Berücksichtigung der in ihr geführten Diskussion“, nicht zuletzt um die Problematik eines Bürgerkriegseinsatzes.

Das Buch ist streng wissenschaftlich, von Fußnoten überwuchert, schwer zu lesen, nicht nur infolge der Schreibmaschinenschrift. Daß der Bayerische Militärbevollmächtigte in Berlin oft zitiert wird, hat einen einfachen Quellengrund: Der Autor hat die vollständig überlieferten Bestände des Münchner Kriegsarchivs durchforscht und auch in anderen regionalen Archiven Belege gefunden, die in der Distanz zum Geschehen in Berlin ihr Gewicht haben. Erst recht gilt das natürlich für die ausländische Militärfachkritik.

Bernd-Felix Schulte, Jahrgang 1947, Oberleutnant d. R., hat in seiner immensen Arbeit, die wieder einmal beweist, wie schier unerschöpflich das Material zur deutschen Geschichte ist, nicht angeklagt und schon gar nicht geeifert. Er deckt kühl auf, wie die deutsche Armee abseits der Paradeplätze war und wirkte. Sie war trotz aller Mängel (bis hin zu den zu Unrecht hochgelobten Kruppschen Feldgeschützen) eine der besten Armeen der Welt, wahrscheinlich die beste. Aber sie war nicht gut genug. Als bei Langemarck zum Exempel. die Deutschen in Linien vorgingen, als wäre noch Siebenjähriger Krieg oder als gälte es, eine bestreikte Fabrik abzuriegeln, mag man das eingesehen haben – zu spät.

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